Gemeinsames Angebot von Behindertenseelsorge und Dombesucherpastoral am 5. Mai 2015 - Aktionstag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung
Würzburg(POW) Langsam fährt Karl-Heinz Kratisch mit den Fingern über die römischen Zahlen am Sockel des siebenarmigenLeuchters. Seine Augen sind geschlossen, denn er ist blind. „Ein X, noch ein X“, liest er vor. Gebärdensprachdolmetscherin Maria Derr übersetzt seine Worte in fließende Armbewegungen. Gemeinsam mit Domführerin Doris Jäger-Herleth entschlüsselt die Gruppe schließlich die Inschrift: Im Jahr 1981 wurde der Leuchter im Kiliansdom aufgestellt. Bei der ersten öffentlichen barrierefreien Domführung am Dienstagabend, 5. Mai, dem Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, ist manches anders als bei den bisherigen Führungen. Rund 20 Teilnehmer testen das neue Angebot, darunter Menschen mit einer Hör- oder Sehbehinderung und eine junge Frau im Rollstuhl. Nach der Führung sind sich alle einig: Eine Fortsetzung ist ausdrücklich erwünscht.
Sie sei „gespannt und ein wenig aufgeregt“, begrüßt Alexandra Eck, Referentin für die Besucherpastoral am Würzburger Dom, die Teilnehmer. „Wir wollen von Ihnen lernen, damit wir nach und nach noch die eine oder andere Barriere im Dom abbauen können. Ein Dom ist nie wirklich barrierefrei. Aber wenn heute jeder auf seine Weise und nach seinen Möglichkeiten durch diesen Kirchenraum geht und wir dabei aufeinander achten, werden wir uns gegenseitig und den Kiliansdom ganz neu kennen lernen.“ Wie neu, das hatten die Organisatoren allerdings nicht geahnt. Denn die Teilnehmer entscheiden spontan, dass sie keine getrennten Gruppen für Seh- und Hörbehinderte, sondern eine gemeinsame Führung wollen. Eine Herausforderung für die Domführerinnen Doris Jäger-Herleth und Elisabeth Nickel. Nun müssen sie sich an jeder Station gleichzeitig auf ganz unterschiedliche Bedürfnisse einstellen.
Bei den geschichtlichen Daten ist das noch relativ einfach. Jäger-Herleth und Nickel hängen sich abwechselnd ein Mikrofon um den Hals, an dem sich ein Spezialsender befindet. Mit Hilfe dieses Senders können die Träger von Hörgeräten sie ohne störende Nebengeräusche empfangen. Maria Derr übersetzt simultan in Gebärdensprache. Doch wie vermittelt man einem Blinden die Größe des Kiliansdoms? Jäger-Herleth holt tief Luft und singt einen einzelnen Ton in Richtung Altar. Mehrere Sekunden vergehen, bis der Dom wieder still ist. „Hören Sie, wie lange das nachhallt?“, fragt sie. Vieles kann man auch mit den Händen ertasten: die Umrisse des Fisches im Hauptportal, das schmiedeeiserne Gitter, die Reliefs am Taufbecken. Ein kleines Stück Stuck wird von Hand zu Hand gereicht. „Das fühlt sich sehr interessant an“, sagt ein Mann. Bald macht die Gruppe automatisch Platz für jene, die mit den Händen „sehen“. Einige der hörgeschädigten Teilnehmer nutzen die Gelegenheit und lassen ihre Hände ebenfalls über die Gravuren am Taufbecken gleiten.
Überraschend trifft die Gruppe noch auf Weihbischof Ulrich Boom, der gerade selbst Gäste durch den Kiliansdom führt. „Ich freue mich, dass das alles so schön gemacht wird. Der Dom ist wirklich ein Haus Gottes und für alle Menschen da“, sagt er und wünscht ihnen noch viel Freude an der Führung. Die wird abrupt unterbrochen, als um 18.45 Uhr die Glocken zur Maiandacht in den Dom rufen. Die Stimmen der Domführerinnen sind für einige Minuten nicht mehr zu hören. Das fällt jedoch den meisten nicht auf, sie unterhalten sich weiter in der Gebärdensprache. „Ich höre nichts, egal wie die Glocken läuten“, sagt eine Frau. Sie artikuliert auffallend langsam und sorgfältig. „Wenn alle 20 Glocken geläutet hätten, hätten Sie die Töne spüren können“, erklärt Jäger-Herleth.
Immer mehr Gläubige strömen in den Dom. Um die Maiandacht nicht zu stören, beschließen die Domführerinnen, die Führung auf dem Kiliansplatz zu beenden. Letzte Station ist das Tastmodell des Kiliansdoms. Nun hat auch Kratisch eine Chance, mit den Händen eine Ahnung von den Dimensionen des Gotteshauses zu erhalten. Zusätzlich hat Domführerin Nickel ein Reliefbild des Doms dabei, auf dem sich die Umrisse samtig-weich abheben.
Eineinhalb Stunden hat die Gruppe gemeinsam im und um den Dom verbracht. Die Rückmeldungen sind überwiegend positiv. „Ich bin mir vorgekommen wie in einem Hörfilm. Es war richtig spannend“, lobt Kratisch. Claudia Walter, Diözesanbeauftragte für die Hörgeschädigtenseelsorge, fasst die Antworten zusammen: „Es gibt noch viel zu entdecken. Wir wollen noch einmal eine Führung, aber mit anderen Schwerpunkten.“ Lob gibt es auch von Karl-Heinz Marx, Behindertenbeauftragter der Stadt Würzburg, und Jutta Behr, stellvertretende Leiterin der Beratungsstelle für Senioren und Menschen mit Behinderung. „Ich habe viel Neues erfahren und würde mir wünschen, dass sie mehr solche Führungen anbieten“, fasst Behr zusammen.
sti (POW)